Sprachgebrauchswandel i.d. neuen Bundesländern

"Fremdheit in der Muttersprache: Sprachgebrauchswandel in den neuen Bundesländern am Beispiel alltagsrhetorischer Strategien in Bewerbungsgesprächen" (DFG)  (Az: Au 72/10-1+2)

Prof. Dr. Peter Auer (Projektleiter)

Als wiss. Angestellte waren mit halber wöchentlicher Arbeitszeit im Projekt beschäftigt:

Karin Birkner, M.A. (1.10.1994–15.12.1998)
Jens Letzel (1.2.1995–31.7.1995)
Friederike Kern, M.A. (15.8.1995–31.12.1998).

Allgemeines

Die Zusammenarbeit mit den Parallelprojekten in Halle und war für das Projekt von zentraler Bedeutung. In der ersten Phase des Projektes (1994–1996) fanden vor allem gemeinsame Treffen mit dem gesamten Projektverbund statt, im zweiten Förderungszeitraum kam es vorrangig zu Treffen auf Mitarbeiterebene und zu gemeinsamer Tagungsteilnahme. 

Treffen des Projektverbundes: 

  • Februar 1995 in Leipzig Mai 1995 in Halle
  • April 1995 in Halle November 1996 in Berlin
  • Mai 1995 in Halle Oktober 1998 in Halle
  • Januar 1996 in Hamburg. Juni 1999 in Berlin
  • Mai 1997 in Leipzig

Gemeinsame Tagungsbesuche: 

  • September 1996 Arbeitstagung "Sprache in der Politik" an der Technischen Universität in Chemnitz-Zwickau, 30.9.–2.10.96.
  • Dezember 1996 Ost/West-Kolloquium an der Universität Leipzig, 6.–7.12.96.
  • Mai 1997 Interviewwerkstatt an der Universität Leipzig, 30.–31.5.97

Im Februar 1998 veranstalteten P. Auer und H. Hausendorf ein Kolloquium zum Thema "Kommunikation in gesellschaftlichen Umbruchsituationen" im Zentrum für Interdisziplinäre Forschung, Bielefeld. Daran waren alle drei Projekte aus dem Projektverbund sowie verschiedene andere Forscher beteiligt. Aus dem Treffen entsteht ein Sammelband, der demnächst bei Niemeyer veröffentlicht wird. 

Daten und Methoden 

In Bezug auf das Ziel des Projektes, Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Bewerbenden zu untersuchen, rückten zwei Themenbereiche ins Zentrum des Forschungsinteresses: Kulturalität/ Interkulturalität einerseits und die sprachliche Performanz in der Kommunikativen Gattung "Bewerbungsgespräch" andererseits. 

Zunächst galt es zu klären, ob in Anbetracht der spezifischen deutsch/deutschen Verhältnisse ost/westdeutsche Kommunikation als interkulturelle Kommunikation gelten kann und ob "kulturelle Zugehörigkeit" eine relevante Kategorie in den Bewerbungsgesprächen des Korpus ist. Ferner sollte untersucht werden, in welchen sprachlichen und kommunikativen Bereichen und auf welche Weise Kultur bzw. Interkulturalität zwischen Ost- und Westdeutschen im Bewerbungsgespräch von Bedeutung ist (vgl. 2.5) 

Voraussetzung für den Ost-Westvergleich war im Rahmen dieses Projektes die Auseinandersetzung mit den Bedingungen und Besonderheiten des Gesprächstyp "Bewerbungsgespräch". Dazu wurde das Konzept der "Kommunikativen Gattungen" gewählt (vgl. 2.4). Bewerbungsgespräche als institutionalisierte Interaktionsform sind typische "gate-keeping"- Situationen (vgl. Erickson/Shultz 1982:14), in denen über gesellschaftlichen Partizipation und Marginalisierung (mit)entschieden wird. Untersuchungen gerade zu interkulturellen Bewerbungsgesprächen haben gezeigt, dass aus unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und divergierenden Kontextualisierungskonventionen der Beteiligten vielfältige Missverständnisse resultieren können (Gumperz 1982; Gumperz/Jupp/Roberts 1979). Eine zentrale Fragestellung lautete deshalb, ob divergierende Wissensbestände bei ostdeutschen Bewerber/innen zu interaktiven Komplikationen mit westdeutschen Interviewer/inne/n. 

Das Datenkorpus

Die Analysen basieren auf einem Korpus von Bewerbungsgesprächen, Rollenspielen und Experteninterviews, das sich folgendermaßen zusammensetzt: 

  • 41 authentische Bewerbungsgespräche aus 7 Unternehmen, in denen westdeutsche Personalfachleute 22 ostdeutsche und 19 westdeutsche Bewerber/innen interviewen (aufgezeichnet 1995),
  • 27 Rollenspiele aus Bewerbungstrainings mit ost- und westdeutschen Teilnehmer/innen (aufgezeichnet 1993),
  • 11 ethnographische Experteninterviews, in denen wir die meisten der beteiligten Interviewer/innen sowie weitere Personalfachleute nach ihren Einstellungskritierien und Erfahrungen mit ost/westdeutschen Bewerbungsgesprächen befragt haben (aufgezeichnet 1995).

Hinzu kommen Nachbesprechungen von Interviewenden im direkten Anschluss an Bewerbungsgespräche, diese stehen nicht systematisch zur Verfügung, sondern nur dann, wenn es sich um Teams von Interviewenden gehandelt hat. In einem der Bewerbungsverfahren kam es außerdem zu einer besonderen Form der Nachbesprechung: hier wird den Bewerberinnen ein Feedback über das gelaufene Gespräch gegeben wird. 

Abschließend sei an dieser Stelle erwähnt, dass sich die Anbahnung von Kontakten mit kooperationsbereiten Unternehmen bis hin zur Datenaufnahme als ein ausgesprochen schwieriger und langwieriger Prozess erwies. Das Personalwesen ist offensichtlich ein sensibler Unternehmensbereich, der einer Beobachtung durch Außenstehende ungern zugänglich gemacht wird. Als nicht realisierbar erwies sich die geplante Aufzeichnung von Gesprächen mit ostdeutschen Interviewenden. Dass alle Personalverantwortlichen unseres Korpus Westdeutsche sind, ist vor allem der realen ökonomischen Asymmetrie zwischen Alten und Neuen Ländern geschuldet. Tatsächlich war zur Zeit der Datenerhebung die überwiegende Zahl von Personalleitungsposten auch in den neuen Ländern mit Westdeutschen besetzt. Darüber hinaus zeigten die wenigen ostdeutschen Personalverantwortlichen, zu denen ein Kontakt zustande kam, größere Vorbehalte gegenüber einer Datenaufnahme als ihre westdeutschen Kolleg/inn/en. Letztendlich gestatteten sie sie nicht; einige von ihnen stellten sich lediglich für ein Experteninterview zur Verfügung. 

Datenerhebung und -transkription 

Die authentischen Gespräche sowie die Expertengespräche wurden mit einem Sony DAT-Recorder und einem Originalkopfmikrophon aufgenommen. Bei den Rostocker Rollenspielen stehen Videoaufzeichnungen zur Verfügung, die Hamburger und Konstanzer Rollenspiele wurden lediglich mit einem Sony-Professional Walkman aufgezeichnet. Bei allen Aufnahmen war ein Mitglied des Projektes anwesend. 

Anschließend wurden alle authentischen und rollengespielten Bewerbungsgespräche von einem Projektmitglied transkribiert sowie in einem zweiten Durchgang einer Kontrolltranskription durch eine weitere Person unterzogen. Sequenzen, die sich für die Analyse als relevant erwiesen, mussten in der Regel noch mehrmals verfeinert werden. Die Transkriptionskonventionen, die den analytischen Zwecken entsprechend ausgewählt wurden, erfassen die üblichen Phänomene gesprächsanalytischer Basistranskripte, erweitert um die Notation von Lautstärke- und Sprechgeschwindigkeitsveränderungen. Die Transkription orientiert sich grundsätzlich an der schriftsprachlichen Norm (allerdings bei konsequenter Kleinschreibung), von der nur in markierten Fällen (salienter Dialektgebrauch o.ä.) abgewichen wurde. 

Methodische Grundlagen der Arbeit 

Bei der vergleichenden Analyse von Ost-/und Westdeutschen wurde ein methodisches Vorgehen gewählt, das nicht prima facie von der kulturellen Zugehörigkeit der Beteiligten ausgeht und das bewusst vermeidet, Phänomene in den Daten sofort auf Ost-/ bzw. Westzugehörigkeit der Bewerbenden zurückzuführen, bevor nicht andere Erklärungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Wird in unterschiedlicher kultureller Herkunft allzu leichtfertig der Ausgangspunkt für kommunikative Störungen gesehen und die Zugehörigkeit zu verschiedenen kulturellen Gruppen zwangsläufig mit Fehlkommunikation gleichgesetzt, besteht die Gefahr, andere Ursachen für Differenzen mit kultureller Zugehörigkeit zu verdecken (vgl. u.a. Streeck 1985, Sarangi 1994, Birkner, im Erscheinen b, Kern, im Erscheinen). Mithilfe der Sequenzanalyse konnten zunächst relevante sprachliche und kommunikative Strukturen als interaktiv hergestellte Phänomene herausgearbeitet werden, die dann mittels vergleichender Analysen auf ihre kulturelle Dimension hin zu überprüfen waren. Die Analysen berücksichtigen deshalb immer zuerst die lokale Gesprächsdynamik sowie ergänzend die Aufgaben und spezifischen Bedingungen der Gattung "Bewerbungsgespräch". Wurden generalisierende Aussagen über Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschen getroffen, lag diesen immer die Rekurrenz von Phänomenen zugrunde, deren kulturelle Relevanz kontrastiv ermittelt wurde. 

Ein wesentlicher methodischer Bezugsrahmen der Arbeit sind die ethnomethodologische Konversationsanalyse (vgl. u.a. Sacks 1992) sowie die Kontextualisierungstheorie (vgl. u.a. Gumperz 1982). Mit Bezugnahme auf ethnomethodologische Prämissen soll die Organisation sprachlichen Handelns erfasst werden; eine zentrale Grundannahme ist, dass die globale Regelhaftigkeit sozialer sprachlicher Interaktion lokal beobachtbar ist und bestimmten Prinzipien folgt, die zu beschreiben Ziel der Konversationsanalyse war. Mit der methodischen Basierung der Arbeit auf der Konversationsanalyse ist vorrangig die Orientierung an einer bestimmten "analytischen Mentalität" angesprochen, die ein sequenzanalytisches Vorgehen bevorzugt, das sich der Untersuchung empirischer Sprachdaten in einem interpretativ-verstehenden Paradigma widmet und auf analytische Kategorien zurückgreift, die in Abstimmung mit dem Untersuchungsgegenstand entwickelt und ausgewertet werden (vgl. Schegloff 1992 zu Methodenreflexion von Konversationsanalyse bei Institutionellen Daten). Von zentraler Bedeutung ist der Nachweis der interaktiven Relevanz der Analysekategorien für die beteiligten Interaktanten. 

Die Kontextualisierungstheorie knüpft eng an einen von der Ethnomethodologie bevorzugten reflexiven und dynamischen Kontextbegriff an und basiert auf deren Annahme, dass die Teilnehmer/innen einer Interaktion die relevanten Kontexte, die von ihnen zur Sinnherstellung benötigt werden, innerhalb des Gesprächs selbst hervorbringen. Mit welchen Mitteln dies geschehen kann, ist beispielsweise von Gumperz (1982) beschrieben worden, der insbesondere die Leistung suprasegmentaler Merkmale (Prosodie, Rhythmus etc.) bei der Herstellung von Kontext aufgezeigt hat. Im Rahmen der Kontextualisierungstheorie wird Kontextherstellung somit als Prozess wechselseitiger Interpretationsvorgänge beobachtbar. 

Um die Komplexität der Primärdaten nicht nur hinsichtlich ihrer möglichen kulturellen Dimension, sondern auch in bezug auf ihre gesprächstypenbedingte Regelhaftigkeit angemessen erfassen zu können, wurden diese beiden methodischen Bezugspunkte um einige wesentlichen Aspekte und Konzepte ergänzt. Dazu gehört das wissensoziologische Konzept der kommunikativen Gattung. 

Ergebnisse 

Thematisierungen der Kategorien Ost/West in den Expertengesprächen 

In einem ersten Schritt wurde überprüft, welchen Stellenwert den Kategorien Ost/West im wiedervereinigten Deutschland im allgemeinen und in Bewerbungsgesprächen im besonderen zugewiesen werden kann. Dazu wurden zunächst die Expertengespräche als Sekundärdaten hinzugezogen, in denen verschiedene (ost- und westdeutsche) Personalfachleute nach ihren Erfahrungen im Umgang mit ost- und westdeutschen Bewerbenden befragt wurden. 

Die Auswertungen der Interviews haben gezeigt, dass der Bereich der Selbstdarstellung ein zentraler Punkt bei der Etablierung ost/westunterscheidbarer Eigenschaften ist (Kern, im Erscheinen): Während Ostbewerbende sich "nicht verkaufen" könnten, würden sich Westbewerbende im Schnitt "besser darstellen". Dies beziehe sich u.a. auch auf die Offenheit, mit der persönliche Themen von den Bewerbenden behandelt werden. Westdeutsche hätten offenbar weniger Schwierigkeiten, sowohl Stärken als auch Schwächen offen zu benennen, während die Ostdeutschen sich nur schwer auf persönliche Erfolge oder eigene Fähigkeiten konkretisieren ließen. Sprachlich äußere sich dies beispielsweise in der häufigen Verwendung von "Allgemeinplätzen" oder "Ausdrücken, die das Kollektiv angehen". 

Neben den Unterschieden zwischen ost- und westdeutschen Verhaltens in Bewerbungsgesprächen geben die Interviews desweiteren den wichtigen Hinweis darauf, wie diese Unterschiede von den Informant/innen bewertet werden. So wird deutlich, dass der Standard "West" unhinterfragt gilt und die als ostdeutsch identifizierten Sprechweisen als von diesem Standard abweichend klassifiziert und mit ihm verglichen werden. Westdeutsche sprachliche Standards haben sich auch in Bewerbungsgesprächen hegemonial durchgesetzt und werden als "natürlicher Stil" vorausgesetzt. 

Kulturalisierungen der Lexik 

In den Primärdaten wurden nun Fülle untersucht, in denen Bewerber/innen und/oder Interviewer/innen die Kategorien Ost/West lokal relevant setzen und punktuell ihre kulturelle Orientierung im Gespräch aufzeigen. 

Zu solchen expliziten Verfahren der Relevanzsetzung der Kategorien Ost/West gehörten die Übersetzungen von ostspezifischen in westspezifische Begriffe (Beispiele dafür sind polytechnische Oberschule, kaderabteilung, armee etc.). Solche Übersetzungen weisen als potentielle Prozesse der Wissensaushandlung zunächst darauf hin, dass die Beteiligten mögliche Defizite über kulturelles Wissen östlicher Lebenswelten beheben möchten. Genauere Analysen haben jedoch gezeigt, dass der Kompensation von Wissensdefiziten dabei nur eine untergeordnete Rolle zukommt (Auer/ Kern, im Erscheinen). Stattdessen kreieren die Sprecher/innen durch den Gebrauch temporaler und lokaler Adverbien (damals-hier, früher-jetzt) symbolisch eine vergangene und eine gegenwärtige Welt, in denen sie die jeweiligen Begriffe verorten. Die Kategorien Ost und West, verstanden als ehemalige DDR und heutige Bundesrepublik werden so in die Gesprächswirklichkeit geholt und die Übersetzungen werden zu Aktivitäten der Ein- und Ausgrenzung: Auf der Oberfläche wird eine Gleichsetzung zwischen zwei Begriffen - und damit zwischen den zwei Welten - hergestellt; gleichzeitig wird durch den Gebrauch der symbolisch auf verschiedene kulturelle Räume verweisenden Begriffe ein Kontrast zwischen diesen Welten reproduziert. 

In den rollengespielten Bewerbungsgesprächen fielen insbesondere die unterschiedlichen Verwendungsweisen der Begriffe team und kollektiv ins Auge. Auffällig war zunächst, dass team - als typisch "westlicher" Ausdruck - den Begriff kollektiv auch in den ostdeutschen Rollenspielen fast völlig verdrängt hatte. Reparaturen (kollekt/ äh team) weisen darauf hin, dass ein Prozess des Sprachwandels stattfindet. 

Ein Vergleich der ostdeutschen mit den westdeutschen Rollenspielen zeigte jedoch, dass die jeweiligen Sprecher/innen den Begriff team in unterschiedlichen thematischen Kontexten gebrauchen. Während die Ostdeutschen team im Zusammenhang mit Leitungstätigkeiten und - funktionen (ich war verantwortlich für ein team...) verwenden, fokussieren die Westdeutschen Aspekte der Kooperation und Zusammenarbeit (ich möchte als gleichberechtigte Partnerin im Team mitarbeiten). Daran zeigte sich, dass ein Austausch bestimmter Begriffe nicht automatisch mit der Übernahme von Verwendungsweisen einhergeht. Kulturalität manifestiert sich impliziter als in den Übersetzungen in den unterschiedlichen Gebrauchskontexten, in denen die Bewerbenden spezifische Begriffe verwenden. 

Erzählen und Berichten 

Unterschiede zwischen Ost- und Westbewerbenden bei der narrativen Gestaltung ihrer Lebensläufe zeigten sich in der differenten Verwendung zweier erzähltypischer Elemente: der Hintergrundbeschreibungen sozialer Räume einerseits und der Beschreibungen innerer Zustände und Motive andererseits. Während die Ostbewerber/innen bevorzugt lange Hintergrundbeschreibungen in ihre biographischen Darstellungen einbetteten, nutzten die Westbewerbenden den Raum, ihre Motive und Einstellungen zu schildern. 

Versteht man nun die daraus entstehenden strukturellen Unterschiede nicht als Kodedifferenzen (im Sinne eines westdeutschen und ostdeutschen Kodes zur Gestaltung biographischer Darstellungen), sondern als Merkmale eines spezifischen Rezipientenzuschnitts, ergibt sich folgendes Bild: Die Ostbewerber/innen antizipierten offenbar die Notwendigkeit, die Interviewenden über die soziale Welt der ehemaligen DDR aufzuklären. Da Westbewerbende und Westinterviewende aus ähnlichen Lebenswelten stammten, konnten die Westbewerbenden Darstellungen ihrer sozialen Räume vernachlässigen und sich stattdessen der "subjektiven Dimension" ihrer Biographien widmen (vgl. Rehbein 1982). 

Neben den im Vergleich verhältnismäßig expliziten Kulturalisierungen in den biographischen Darstellungen konnten auch implizitere in den Schilderungen der Berufserfahrungen gefunden werden. Dort zeigte sich, dass Ost- und Westbewerbende unterschiedliche rhetorische Strategien zur Lösung gattungsspezifischer Aufgaben (hier: Darstellung der eigenen Berufserfahrung) bevorzugen. Die Westbewerbenden verwenden häufig an schriftliche Berichte erinnernden Listenformate, durch die sie sich knapp und ohne thematische "Ausflüge" aufs "Wesentliche" konzentrieren können. Die Ostbewerbenden greifen dagegen auch hier auf Elemente des Erzählens zurück: sie betten die Schilderung früherer Tätigkeiten in die sozialen Räume ein, in denen diese stattgefunden haben. Kulturalität entstand hier also implizit durch den Rückgriff auf verschiedene Muster (Erzählen vs. Berichten), um eine spezifische gattungsbedingte Aufgabe rhetorisch lösen zu können. 

Perpektivierungsverfahren 

Differenzen zwischen Ost- und Westbewerbenden betrafen auch verschiedene Formen der Selbst- und Fremdperspektivierung. So wurde an vielen Stellen deutlich, dass Ostbewerbende weniger offen als Westbewerbende ihre Eigenperspektive zum Ausdruck bringen. Außerdem rekurrierten Ostbewerbende häufiger auf allgmeinen statt individualisierter Fremdperspektiven. Dazu gehörten beispielsweise die Stimmen übergeordneter Instanzen, Fragmente kollektiver Wissensbestände etc., die von ihnen zur argumentativen Unterstützung ihrer eigenen Position hinzugezogen wurden. Westdeutsche dagegen rekurierten in vergleichbaren Fällen auf konkrete Stimmen früherer Interviewer, Ausbilder o.ä.. In einigen Fällen berücksichtigten die Ostbewerbenden zudem nicht die lokale Interviewerperspektive; dies führte zu problematischen Sequenzen und hatte massive Konsequenzen für die Selbstdarstellung der Kandidat/innen als geeignete Bewerber/innen. 

Normen der Gattung im Gespräch 

In den ost-/westdeutschen Bewerbungsgesprächen ließ sich eine besondere Form des Erfahrungslernens feststellen, und zwar waren Aushandlungsprozesse von Gattungswissen und damit mit eine Form des Transfers von gesellschaftlich relevantem Wissen beobachtbar (Birkner, im Erscheinen a). Es wurden Fülle untersucht, die auf einer Achse von explizit zu implizit angeordnet werden können. In den expliziteren Fällen der "normativen Formulierungen" durch Interviewer wird schon auf der Formulierungsebene ein normativer Anspruch deutlich, wie beispielsweise in "normalerweise sagt man da..." oder "aber man informiert sich doch". In den impliziteren F?llen werden Erwartungen an "gattungskonformes" Verhalten quasi vorexerziert, wie in den unter dem Stichwort "Lehrverfahren" analysierten Fällen. Es lassen sich sogar regelrechte Sanktionen feststellen, die aus solchen vermeintlichen Verstößen resultieren können. 

Die Analysen haben gezeigt, dass in diesem Wissenstransfer auch die interkulturelle Aushandlung von Angemessenheit und Legitimität von Gattungswissen vollzogen wird. Es ist nicht allein auf die Asymmetrie der Beteiligungsrollen Interviewende/Bewerbende zurückzuführen, dass solche Belehrungen besonders Ostdeutsche als Neulinge auf dem westdeutsch dominierten Arbeitsmarkt betreffen. Es erscheint auf dem Hintergrund plausibel, dass die Gattung "Bewerbungsgespräch" in ihrer westdeutschen Ausprägung für Ostbewerbende die Konfrontation mit einer großen Zahl neuer kommunikativer Praktiken, Normen und Regeln bedeutet. Die interaktive Bearbeitung von Gattungswissen wird als Lehr/Lernprozesse vollzogen; dieser verläuft allerdings häufig nicht neutral, sondern als asymmetrisierende Belehrung durch die (westdeutschen) Interviewenden, in denen ein hegemonialer Anspruch auf die Legitimität ihres (kulturellen) Wissens zum Ausdruck kommt. Die Brisanz für die Beteiligten wird deutlich, wenn man die negativen Konsequenzen für die Selbstdarstellung berücksichtigt. An diesen Sequenzen werden diskursive Verfahren der Durchsetzung eines westdeutschen Dominanzanspruchs beobachtbar (Birkner, im Erscheinen b). 

Typische Fragen 

Nach der Untersuchung interaktiver Aushandlungsprozesse in Bezug auf Gattungswissen kann die Relevanz von Wissensdifferenzen in der ost/westdeutschen Kommunikation als belegt gelten. Dieser Aspekt wurde unter einer stärker kontrastiven Perspektive weiter verfolgt. Gattungswissen umfasst auch die Kenntnis, dass Bewerbungsgespräche nicht nur über eine Reihe "typischer Fragen", sondern auch über "präferierte Antworten" verfügen, die sich u.a. dadurch auszeichnen, dass sie die "versteckte Agenda" und argumentative Dilemmata besser berücksichtigen als andere Antworten (Birkner, im Erscheinen a). 

Ein Vergleich ost- und westdeutscher Antworten auf drei ausgewählte "typische Fragen" zeigt, dass Westbewerbende in der Tendenz einen stärkeren Zuschnitt auf die "versteckte Agenda" des Bewerbungsgesprächs vornehmen als die ostdeutschen Bewerbenden. So nennen z.B. Westdeutsche bei Selbstattribuierungsfragen positive Attribute, die für eine zukünftige Berufstätigkeit Bedeutung haben, während die genannten Schwächen vornehmlich in der privaten Domäne relevant sind. Auch die häufige Nennung von Ungeduld, einem verbreiteten Topos in westlichen Industrieländer, verweist auf geteiltes kulturelles Wissen. Bei der Beantwortung der Gehaltsfrage spielt Gattungswissen eine nicht unerhebliche Rolle: Um angemessene Gehaltsvorstellungen nennen zu können, muss man entweder über ein solides außenstrukturelles Wissen von den Tarifstrukturen verfügen oder wissen, dass diese Frage im Bewerbungsgespräch erwartbar ist, und sich auf eine Antwort vorbereiten. 

Weiterhin lassen sich Rekurrenzen in den ostdeutschen bzw. westdeutschen Antworten als konversationelle Stilpräferenzen interpretieren: Während Ostdeutsche zu einer stärkeren Indirektheit tendieren, zeichnen sich die Antworten der Westdeutschen durch Direktheit aus. Die Ergebnisse rufen also zwei Erklärungshintergründe auf: Einerseits verweisen die Unterschiede auf Differenzen im Gattungswissen und andererseits auf unterschiedliche konversationelle Stile.

Nichtübereinstimmung im Gespräch 

Der Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Erklärungsansätze wurde weiter verfolgt in spezifischen Kontexten von Interviewfragen, in denen Nichtübereinstimmung mit dem/der Interviewenden zum Ausdruck gebracht werden musste (Birkner, im Erscheinen a). 

Um eine bessere Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurden Sequenzen in den Bewerbungsgesprächen untersucht, in denen Interviewerfragen eine Nichtübereinstimmung von Bewerbenden erforderlich machen, um eine Imagebedrohung zu verhindern. Drei Frageformate von Interviewern, die solche "kritischen Momente" herbeiführen, wurden isoliert: Suggestivfragen, (negative) psychologisierende Deutungen, Konfrontation mit Widersprüchen. Diesen Frageformaten ist gemeinsam, dass sie Bewerbende dem Zugzwang aussetzen, Nichtübereinstimmung zum Ausdruck bringen zu müssen, um ihr Ziel, sich als geeignete Kandidat/innen zu präsentieren, nicht zu gefährden. Nichtübereinstimmung gilt jedoch als konversationell prekär, da sie mit dem Präferenzsystem für Übereinstimmung in Konkurrenz tritt (vgl. hierzu u.a. Pomerantz 1984; Kotthoff 1989; 1992). 

Die Ergebnisse eines Vergleichs der Antworten von Ost- und Westdeutschen sind sehr deutlich: Während Ostbewerbende sich durch Konsensorientierung auszeichnen, weisen Westbewerbende eine höhere, bisweilen spielerische Dissensbereitschaft auf. Untersucht man die analysierten Beispiele in Bezug auf ihre interaktiven Konsequenzen, zeichnet sich eine fast paradoxe Entwicklung ab: Das Kontern von Westbewerbenden mit bisweilen sehr offenen Nichtübereinstimmungsformaten führt keineswegs in den Streit, wie man vermuten könnte, sondern häufig zur Beendigung des Themas bzw. dazu, dass die Betreffenden die Möglichkeit bekommen, ev. Negativpunkte auszuräumen. Auf konsensorientierte Reaktionen ostdeutscher Bewerbender hingegen entwickeln sich häufig längere, die Nichtübereinstimmung verschärfende Reaktionen der Interviewenden, wie die detaillierte Analyse einiger Beispielen gezeigt hat. 

Die Unterschiede in den Antwortreaktionen von Ost- und Westdeutschen lassen sich als differente konversationelle Stile fassen. Die Bevorzugung eines spezifischen konversationellen Stils ist jedoch nicht als Beleg dafür zu werten, dass Westbewerbende in einem in einem psychologischen oder einem faktischen Sinne Sinne konfliktfähiger bzw. Ostbewerbende weniger konfliktfähig sind, sie verweist vielmehr auf konversationelle Normen und Werte auf einer symbolischen Ebene. Hier muss wieder der situative Kontext berücksichtigt werden: Auch in Bezug auf Dissensbereitschaft spielt das Wissen darum, wieviel davon im Rahmen der Gattung zum Ausdruck kommen sollte, eine Rolle. In der Performanz der Gattung als einer kulturellen Praxis liegt ein symbolischer Gehalt von geteiltem Wissen und Zugehörigkeit; Divergenzen im kulturellen Handlungswissen führen in vielen Fällen zu einem Mehraufwand an Aushandlung und auch zu Turbulenzen im Gesprächsverlauf, die häufig mit negativen Konsequenzen für die positive Selbstdarstellung verbunden sind. Das wiegt in einer "gatekeeping"-Gattung wie dem Bewerbungsgespräch, in der über soziale Chancen entschieden wird, schwer. 

Qualifikationsarbeiten 

  • Birkner, Karin (im Erscheinen) Bewerbungsgespräche mit Ost- und Westdeutschen. Eine kommunikative Gattung in Zeiten gesellschaftlichen Wandels, Dissertation an der Universität Hamburg, 1999.
  • Kern, Friederike (im Erscheinen) Interkulturalität in Bewerbungsgesprächen - Strategien der Selbstdarstellung bei Bewerber/innen aus Ost- und Westdeutschland, Dissertation an der Universität Hamburg, 1999.
  • Kreßin, Julia Frederike (Ms.) "Strategien sprachlicher Selbstdarstellung in Ost- und Westdeutschland", unveröffentlichte Magisterarbeit an der Universität Hamburg.
  • Saatz, Maria Claudia (Ms.) "Bewerbungsgespräche in der Ratgeberliteratur und in der Realität - ein Vergleich", unveröffentlichte Magisterarbeit an der Universität Freiburg.

Projektpublikationen

  • Auer, Peter (1998) Learning How to Play the Game: An Investigation of Role-Played Interviews in East Germany, in: Text 18, 1, 7-38.
  • Auer, Peter (2000) „Changing Communicative Practices among East Germans“, in: Theobald, John/ Stevenson, Patrick (eds.) Relocating Germanness. Discursive disunity in unified Germany. London: Macmillan, 167-188.
  • Auer, Peter (2000) „Was sich ändert und was bleibt: Vorläufiges zu stilistischen Konvergenzen Ost ? West am Beispiel von Interviews“, in: Auer/Hausendorf (Hgg.), 151-176.
  • Auer, Peter/Birkner, Karin/Kern, Friederike (1997) „Wörter - Formeln - Argumente. Was in Bewerbungsgesprächen ‘Spaß’ macht“, in: Barz, Ingrid/Fix, Ulla (Hgg.) Deutsch-deutsche Kommunikationserfahrungen im arbeitsweltlichen Alltag, Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 213-232.
  • Auer, Peter/Birkner, Karin/Kern, Friederike (1997a) „Spiegel der Wende in der biographischen Selbstdarstellung von ostdeutschen Bewerberinnen und Bewerbern“, in: Deutsche Sprache 25, 144-156.
  • Auer, Peter/Hausendorf, Heiko (2000) (Hg.) Kommunikation in gesellschaftlichen Umbruchsituationen, Tübingen: Niemeyer.
  • Auer, Peter/Hausendorf, Heiko (2000) „10 Jahre Wiedervereinigung. Hauptrichtungen linguistischer Untersuchungen zum sprachlichen und gesellschaftlichen Wandel in den Neuen Bundesländern, in: Auer/Hausendorf (Hg.), 3-20.
  • Auer, Peter/Kern, Friederike (im Erscheinen) „Three Ways of Analysing Communication between East and West Germans as Intercultural Communication“, in: Luzio, Aldo di/Günthner, Susanne/Orletti, Franca (Hgg.) Language, Culture, and Interaction. New Perspectives on Intercultural Communication, Amsterdam/Philadelphia: Benjamins.
  • Birkner, Karin (1995) „Bewerbungsgespräche: Anmerkungen zur sprachlichen Konstruktion eines westlichen Aktivitätstyps in Ostdeutschland“, in: Sahner, Heinz/Schwendtner, Stefan (Hgg.) Gesellschaften im Umbruch, 27. Kongress der deutschen Gesellschaft für Soziologie, Kongressband II, Berichte aus den Sektionen und Arbeitsgruppen, Opladen: Westdeutscher Verlag, 535-537.
  • Birkner, Karin (1997) Rezension. Annette Lepschy, Das Bewerbungsgespräch. Eine sprechwissenschaftliche Studie zu gelingender Kommunikation aus der Perspektive von Bewerberinnen und Bewerbern, Sprechen & Verstehen, Schriften zu Sprechwissenschaft und Sprecherziehung, Band 8, Sankt Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 1995, in: Linguistische Berichte 171, 443-447.
  • Birkner, Karin (1998) „’Normalerweise sagt man da…’. Gattungsnormen im Bewerbungsgespräch“, in: Apfelbaum, Birgit/Müller, Hermann (Hgg.) Fremde im Gespräch, Frankfurt a. M.: Verlag für Interkulturelle Kommunikation.
  • Birkner, Karin (2001) „Ost- und Westdeutsche im Bewerbungsgespräch. Eine kommunikative Gattung im Zeiten gesellschaftlichen Wandels“, Niemeyer (Tübingen): Linguistische Arbeiten.
  • Birkner, Karin (2002) „Ost- und Westdeutsche im Bewerbungsgespräch: Ein Fall von Interkultureller Kommunikation?“, in: Kotthoff, Helga (Hgg.) Kultur(en) im Gespräch, Tübingen: Narr, 301-331.
  • Birkner, Karin/Kern, Friederike (1996) „Deutsch-deutsche Reparaturversuche. Alltagsrhetorische Gestaltungsverfahren ostdeutscher Sprecherinnen und Sprecher im westdeutschen Aktivitätstyp ‘Bewerbungsgespräch’“, in: GaL-Bulletin, Zeitschrift für angewandte Linguistik 25, 53-76.
  • Birkner, Karin/Kern, Friederike (2000) „Impression Management in East and West German Job Interviews“, in: Spencer-Oatey, Helen (ed.) Culturally Speaking: Managing Relations in Talk across Cultures, London: Cassell Academic.
  • Birkner, Karin/Kern, Friederike (2000) „Ost- und Westdeutsche im Bewerbungsgespräch“, in: Auer/Hausendorf (Hg.), Opladen: Westdeutscher Verlag.
  • Kern, Friederike (1998) „’Kultur im Gespräch’ - Lebensläufe in Bewerbungsgesprächen“, in: Apfelbaum, Birgit/Müller, Hermann (Hgg.) Fremde im Gespräch, Frankfurt a. M.: Verlag für Interkulturelle Kommunikation, 219-239.
  • Kern, Friederike (1998b) „Vorurteile im Gespräch - Die Konstruktion der sozialen Kategorien Ost und West bei Berliner/innen“, in: Heinemann, Margot (Hg.) Sprachliche und soziale Stereotype, Reihe Forum Angewandte Linguistik, Band 33, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 97-118.
  • Kern, Friederike (2000): Kultur(en) der Selbstdarstellung. Ost- und Westdeutsche in Bewerbungsgesprächen, Gabler/DUV (Wiesbaden): Sprachwissenschaft.

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