Ethnische Identität

Sprachliche Symbolisierung ethnischer Identität in den deutschen Siedlungen in Rio Grande do Sul (Brasilien) - ausgelaufen am 01.07.2003

Teilprojekt A2 im Sonderforschungsbereich 541 (Identitäten und Alteritäten)

MitarbeiterInnen:
Prof. Dr. Peter Auer (Projektleiter) 
Cintia Bueno-Aniola, M.A. 
Jacinta Arnhold, M.A. 

Projektbeschreibung

Ziel des Forschungsprojekts war es, die Bedeutung der verschiedenen in Südbrasilien (Staat Rio Grande do Sul = RGS) koexistierenden sprachlichen Varietäten für die Symbolisierung ethnischer Identitäten zu untersuchen. Im Mittelpunkt steht die Gruppe der deutschstämmigen Brasilianer, deren Einwanderung bis in die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zurückgeht, und die heute auch in den ländlichen Regionen in engem Kontakt zu anderen ethnischen Gruppen (vor allem natürlich monolingual portugiesischsprachigen Brasilianern, aber auch anderen Einwandereren, insbesonders italienisch- und polnischstämmigen Gruppen) leben.

Die sprachliche und soziale Lage in Südbrasilien ist aus folgenden Gründen besonders gut geeignet, identitäts- und alteritätsbezogene Symbolisierungsakte zu untersuchen: (a) zunächst ist sowohl die Anzahl der ethnischen Kategorien wie auch das Repertoire der sprachlichen Symbolisierungsmöglichkeiten für Zugehörigkeit und Ausgrenzung in RGS beeindruckend (vgl. unten); (b) aus germanistischer Perspektive kommt dazu, da? die Situation der deutschen Sprachinseln in Südbrasilien weltweit einmalig ist: wenn man von religiös begründeten Kleinstgruppen (wie etwa den Mennoniten) absieht, gibt es trotz der heute zu beobachtenden Übergangserscheinungen zum (portugiesischen) Monolingualismus nirgendwo noch so große und vitale deutsche 'Sprachinseln' wie in RGS. Dies legt die Frage nahe, warum gerade im südbrasilianischen Kontext die deutsche Sprache so lange als Ausdrucksmittel ethnischer Zugehörigkeit fungieren konnte; (c) aufgrund der vielfältigen Ursprungsregionen der Deutschbrasilianer im Herkunftsland lässt sich in RGS auch das Schicksal regionaler ('landsmannschaftlicher') Zugehörigkeiten in der Migrationsituation beschreiben, also die Bedeutung kleinräumiger Identitätsakte innerhalb der deutschen Sprachinseln (etwa 'Pommern' vs. 'Westfalen'); dazu gehört auch die Frage nach der symbolischen Bedeutung von Ausgleichssprachen und der deutschen Standardvarietät; (d) schließlich lässt sich der Diskurs des Deutschen als Minderheitssprache in Brasilien in aufschlussreicher Weise mit dem Diskurs (z.B.) des Türkischen als Minderheitssprache (und des Deutschen als Majoritätssprache) in Deutschland vergleichen. 

Um sprachliche 'acts of identity' in Südbrasilien erforschen zu können, ist es nötig, (i) das komplexe sprachliche Repertoire der deutschstämmigen Südbrasilianer linguistisch zu beschreiben, (ii) die ethnischen Kategorisierungen und Stereotypisierungen zu untersuchen, die das sozio-kulturelle Feld in Südbrasilien kennzeichnen und (iii) die identitätsbezogene diskursive Verwendung der einzelnen Varietäten in kommunikativen Situationen zu analysieren. Diesen Zielen will das beantragte Projekt in einer Kombination von (kontakt-)linguistischen und ethnographischen Methoden nachgehen. 

zu (i): 

In den Siedlungsgebieten der Deutschbrasilianer (sowohl in den 'alten' wie auch in den 'neuen', d.h. Tochterkolonien) gehören heute zum Repertoire zumindest die folgenden Varietäten: 

(a) der deutsche Dialekt, der allerdings nur noch von wenigen (v.a. älteren und alten) Sprechern beherrscht und verwendet wird. Die frühe Immigration nach Südbrasilien erfolgte vor allem aus westmitteldeutschen Dialektregionen (Rheinfränkisch, Moselfränkisch), jedoch auch aus dem (nord-) niederdeutschen Mundartgebiet (von Hamburg bis nach Pommern); (b) das sog. 'Hunsrückische', vermutlich ein Ausgleichsdialekt (koin?), der sich in den deutschen Siedlungen entwickelt hat und auch von Siedlern mit anderen als rheinfränkisch/moselfränkischen Grunddialekten übernommen worden ist. Zwischen (a) und (b) gibt es Übergänge der verschiedensten (genauer zu analysierenden) Art; (c) eine vom 'Hunsrückischen' bzw. den Grunddialekten gefärbte Varietät des Standarddeutschen. Auch diese Varietät wird nur noch wenig gesprochen; soweit Sprecher des 'Hunsrückischen' sie verwenden, ist mit Zwischenformen zu rechnen; (d) das 'misturado', eine durch zahlreiche Interferenzen mit dem brasilianischen Portugiesisch gekennzeichnete Varietät des Deutschen. Dieses 'misturado' ist die hauptsächliche Kommunikationsform unter den Deutschbrasilianern der mittleren Generation; die Analyse der strukturellen Mischungsprozesse in Phonologie, Syntax, Morphologie und Pragmatik steht noch in den Anfängen; (e) eine von deutschen Interferenzen gekennzeichnete Varietät von (f); über sie gibt es in der brasilianischen Öffentlichkeit (Medien!) ein stereotypes Bild; (f) die riograndesische Variante des brasilianischen Portugiesisch, die (neben indianischen Einflüssen) vor allem durch die Regionalsprache der Gauchos (Viehzüchter) mit ihrer eigenständigen, prestigereichen Kultur geprägt istund in vielerlei Hinsicht vom nördlicheren brasilianischen Portugiesisch abweicht; (g) die überregionale nördliche bzw. in den Städten Rio de Janeiro und Sao Paulo gesprochene Variante des brasilianischen Portugiesisch, die vor allem über die Medien (Fernsehen) in Rio Grande do Sul präsent ist, jedoch kaum gesprochen wird (vgl. zur Beschreibung z.B. Cunha 1986); (h) verschiedene andere ethnische Varietäten des Portugiesischen, besonders die der oft in Nachbarschaft zu bzw. vermischt mit den deutschen Siedlern lebenden italienischen Einwanderer und deren Nachkommen. Auch diese Varietäten gehören nur zum passiven Teil des Repertoires der deutschstämmigen Brasilianer in den ländlichen Gegenden von RGS. 

zu (ii): 

Während der deskriptiv-linguistische Teil des Projekts zum Ziel hatte, den skizzierten Variantenraum zu rekonstruieren (wobei den verschiedenen Sprachkontaktphänomenen, die sich hinter dem Begriff misturado verstecken, besondere Aufmerksamkeit galt), wurde in einem weiteren Schritt das Inventar an ethnischen Kategorisierungen und Stereotypisierungen erfasst, das den deutschstämmigen Bewohnern der Untersuchungsorte, aber auch den übrigen dort bzw. in Nachbarschaft lebenden ethnischen Gruppen zur Verfügung steht, (a) um Zugehörigkeit auszudrücken und festzustellen: an welchen Merkmalen erkennen die Kulturmitglieder sich bzw. andere als Mitglieder einer bestimmten Ethnie und wie bezeichnen sie diese Mitgliedschaft? (b) um Eigenschaften zuzuschreiben; die jeweils relevanten Kategorien werden schematisch mit mehr oder weniger stereotypisierten Eigenschaften verbunden, die den 'Charakter' bestimmter Ethnien kennzeichnen sollen, und (c) um andere und die eigene Volksgruppen zu bewerten (zu achten oder zu verachten). 

zu (iii): 

Der dritte Teil des Projekts besteht in der Analyse des Zusammenwirkens zwischen sprachlichen Symbolisierungsressourcen und ethnischen Schemata in faktischen Kommunikationsabläufen.

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