Dialektintonation

"Untersuchungen zur Struktur und Funktion regionalspezifischer Intonationsverläufe im Deutschen" (DFG)

Au 72/13-1, Au 72/13-3, Au 72/13-4 (11/1997-10/2003) und Se 699/2-1, Se 699/2-2, Se 699/2-3 (1/1998-12/2003)

Leitung:

Prof. Dr. Peter Auer (Freiburg) und Prof. Dr. Margret Selting (Potsdam)

Mitarbeiter:

Dr. Peter Gilles (Freiburg) und Dr. Jörg Peters (Potsdam)

Projektbeschreibung

Gegenstand des Projekts war die Untersuchung spezifischer prosodischer, und zwar insbesondere 'satz'-intonatorischer Strukturen in natürlichen Gesprächen in ausgewählten deutschen Regionalvarietäten (Stadtsprachen). Das Projekt verfolgte die Hypothese, daß solche Strukturen von den Sprechern und Hörern ganzheitlich, das heißt als holistische "Gestalten" produziert und rezipiert werden, denen in der linguistischen Analyse dann konstitutive phonetische Parameter wie Akzenttonhöhenbewegungen, Onsettonhöhe, "pitch range", Nachlaufintonation, Globaltonhöhenverlauf, usw. zugeordnet werden können. Außerdem geht der gewählte Ansatz davon aus, daß sich regionale Unterschiede in der Intonation nur beschreiben lassen, wenn sie nicht von ihrer Funktion losgelöst werden; daraus ergibt sich eine enge Verbindung von phonetischer und interaktiver (textueller) Analyse. 
Über die Gesamtdauer des Projekts hinweg wurde die typische Intonation der städtischen Varietäten von Hamburg, Berlin (1. Phase), Dresden, Mannheim, Duisburg (2. Phase), Köln und München (3. Phase) untersucht. 

Methodik

Um die einmal bestimmten regionalspezifischen Konturen prosodisch zu rekonstruieren, mussten selbstverständlich ihre konstitutiven Einzelparameter bestimmt werden. Nach unseren bisherigen Analysen spielen dabei zumindest die folgenden Faktoren eine Rolle: 

  • lokale Parameter die Akzenttonhöhenbewegung (in) der Akzentsilbe, der prä-nukleare Akzentvorlauf unmittelbar vor der Akzentsilbe,
  • ggf. die Nukleusonsettonhöhe, d.h. die Höhe des Nukleustones in Relation zu den prä-nuklearen Silben
  • der post-nukleare Akzentnachlauf unmittelbar nach der Akzentsilbe und ggf. weiterhin bis zur nächsten Akzentsilbe,
  • der Ansatz (Höhe) des "Vorlaufs" vor der ersten Akzentsilbe (anacrusis onset )
  • die Lage der ersten Akzentsilbe (head onset )
  • Verlauf und Endpunkt (offset ) des Nachlaufs
  • globale (d.h. auf die Kontur insgesamt bezogene) Parameter: die Beziehung der Akzente zueinander (gleiche/gegenläufige lokale Akzenttonhöhenbewegungen, u.a.)
  • der Tonhöhenumfang (Bandbreite, range ) der gesamten Einheit und die Anzahl bzw. die Deutlichkeit der Bewegungen in ihr (z.B. eher melodisch bewegt oder eher monoton)

Für die Beschreibung der dialektspezifischen Prosodie ist die Gestaltung der Akzente besonders wichtig. Jede dialektspezifische Akzent-Gestaltung kann als Konfiguration aus prä-nuklearer, nuklearer und post-nuklearer Tonhöhenbewegung beschrieben werden. Nukleus meint hier den prominentesten vokalischen Teil einer Akzentsilbe (oder Akzentdomäne), prä-nuklear ist der vor und post-nuklear ist der nach dem Nukleus liegende Teil einer Akzentdomäne. In manchen Fällen ist auch die Höhe und Gestaltung des Ansatzes der nuklearen Tonhöhenbewegung, also die Nukleus-Onsettonhöhe, von Bedeutung. Da alle diese Parameter dialektspezifisch miteinander kombiniert werden können, reicht für unsere Untersuchung die in der Literatur übliche melodische oder tonale Beschreibung von Akzenten (fallend, steigend, komplex) nicht aus. Üblicherweise werden nämlich Akzente als Bewegungen beschrieben, die im Nukleus der Akzentsilbe beginnen und meist bis zur nächsten Akzentsilbe fortgesetzt werden; die Einheit, die in einer prominenten Akzentsilbe beginnt und sich bis zum Beginn der folgenden Akzentsilbe erstreckt, diese aber nicht einschließt, wird traditionellerweise 'Fuß', 'Takt' oder 'Akzenteinheit' genannt. Die darüber hinausgehende Berücksichtigung der pränuklearen Komponenten der Akzenttonhöhenbewegung als Teil der Akzentdomäne hat auch theoretische Konsequenzen, da zwischen der post-nuklearen Akzenttonhöhenbewegung eines vorhergehenden und der prä-nuklearen Akzenttonhöhenbewegung eines nachfolgenden Akzentnukleus keine feste Grenze mehr gezogen werden kann. Dies bedeutete, daß sich die traditionelle Einteilung in Füße, Takte bzw. Akzenteinheiten verflüssigt und damit diese Kategorie(n) dynamisiert werden müsse(n). Zu untersuchen ist auch die Beziehung zwischen eher lokalen (Akzentposition, onset, offset ) und eher globalen Kategorien wie dem Globaltonhöhenverlauf gesamter Äußerungseinheiten. 

Die Analyse erfolgte sowohl auditiv- als akustisch-phonetisch. Die akustisch-phonetischen Analysen wurden mit Paul Boersmas PRAAT erstellt. 

Zur Notation der Intonationsverläufe wurde eine zur Erfassung regionaler Variation angepaßte ToBI-Notation verwendet. Dabei werden teils Anleihen am IViE-System von E. Grabe gemacht und teils eigene Notationskonventionen aufgestellt. Die wichtigste Änderung betriftt das alginment der Bestandteile von bitonalen Akzenttönen. Während in ToBI ein H*+L-Akzent in seiner Gänze mit der akzentuierten Silbe verbunden ist, werden im hier vorgeschlagenen System die Teiltöne H und L mit den jeweiligen Silben assoziiert, auf denen die entsprechenden Tonbewegung auch tatsächlich stattfindet. Durch diese Modifkation kann u.a. die Fallbewegung auf H*+L-Akzenten (schnell vs. langsam fallend) detailierter erfaßt werden. 

H*+L -> schnell fallend

H*+ L -> langsam fallend 

Für die funktionale Analyse gehen wir davon aus, daß Intonation primär nicht grammatische, sondern pragmatische bzw. interaktive Funktionen erfüllt. Die funktionale Analyse der identifizierten Gestalten betrifft u.a. 

  • die Rolle der Intonation für den Sprecherwechsel, besonders an den Schnittstellen konversationeller Sequenzen, wie z.B. in Reparatur-, Bewertungs-, Frage-Antwort-Sequenzen,
  • die Signalisierung und Kontextualisierung von Aktivitätstypen / Handlungstypen wie Fragen und deren spezifische Untertypen, Behauptungen sowie von mündlichen Gattungen
  • die Signalisierung und Kontextualisierung der "emotionalen Verfassung" bzw. der "emotionalen Überformung" der Rede.

Daten

Datengrundlage für die Intonationsanalysen sind je 10 Interviews, die in Berlin und Hamburg mit Männern der älteren Generation durchgeführt wurden. Es wurde darauf geachtet, sowohl basilektnahe als auch basilektferne (=standardnahe) Sprecher aufzunehmen. Durch den Vergleich der standardnahen Sprecher aus den verschiedenen Städten können dann später Aussagen über eine mögliche 'Standardintonation' des Deutschen gemacht werden. 

Ausgewählte Ergebnisse

Deutliche Unterschiede zwischen dem Berlinischen und Hamburgischen lassen sich sowohl bei den lokalen als auch bei den globalen Grundfrequenzverläufen beobachten.

Bei den lokalen Parametern finden sich v.a. Unterschiede in der Position des Akzentgipfels und in der Gestaltung des Tonhöhenverlaufs im Akzent. Während im Berlinischen das F0-Maximum relativ am Ende der betonten Silbe erreicht wird, so wird im Hamburgischen das Maximum weitaus früher erreicht (für Details vgl. Peters (1999)).

In der Gestaltung von terminal fallenden Akzenten mit relativ wenig sonorem Material lassen sich zwei komplementär verteilte F0-Modifkationen feststellen. Während im Berlinischen Akzentverläufe auf verkürzten stimmhaften Abschnitten 'trunkiert' (d.h. der Akzentton wird nicht vollständig realisiert) werden, findet im Hamburgischen unter den gleichen Bedingungen 'Komprimierung' statt (d.h. der Akzentverlauf wird auf das vorhandene sonore Material gestaucht). 

Trunkierung bzw. Komprimierung tragen zu unterschiedlichen perzeptorischen Eindrücken bei: Durch die Verkürzung der Akzenttonverläufe im Berlinischen entsteht ein relativ monotoner Eindruck. Durch die Komprimierung des Hamburgischen erhalten die F0-Verläufe ein hohes Maß an tonaler Bewegtheit.

Eine saliente Kontur des Hamburgischen, die sich auf den Nukleus und alle Folgesilben bis zum Phrasenende erstreckt, ist der nukleare Schleifton. Diese Kontur tritt in sog. progredienten Kontexten auf, in denen der Sprecher mit einem finalen Tonhöhenanstieg signalisiert, daß er noch eine weitere Phrase anhängen möchte. Im Hamburgischen wird diese Kontur mit einem Hochton auf dem Nukleus relaisiert gefolgt von einem Fall in der Nukleussilbe oder in der Folgesilbe; am Ende der Phrase steigt die Grundfrequenz dann noch einmal schnell auf einen hohen Grenzton an (H*+L H%). 

Die regionale Salienz dieser Kontur ergibt sich nur, wenn die Bewegung H*+L H% auf relativ wenigen Silben stattfindet. Diese Variante wurde im Perzeptionsexperiment als die prägnanteste hamburgische Kontur sowohl von Hamburgern selbst als auch von Zugezogenen bzw. Auswärtigen evauliert. Die regionale Auffälligkeit des nuklearen Schleiftons nimmt ab, wenn er Nukleus größer als drei Silben ist.

Als Beispiele für globale Tonhöhenverläufe (erstrecken sich über die gesamte Intonationsphrase) wird je eine Kontur für das Berlinische und Hamburgische angeführt.

Berliner Springton 

Der Berliner Springton beginnt mit einer steigenden Akzenttonhöhenbewegung in und ggf. nach der Akzentsilbe, dann erfolgt ein plötzlicher Tonhöhensprung oder eine schnelle, steile Tonhöhenbewegung nach oben zu einer deutlich höheren unakzentuierten Silbe, danach ein weiterer plötzlicher Tonhöhensprung oder eine schnelle, steile Tonhöhenbewegung herunter zu einer wieder deutlich tieferen Akzentsilbe, deren Akzenttonhöhenbewegung in der Regel eine fallende ist, entweder bis zu mittlerer oder tiefer Abschlußtonhöhe der Kontur.

Die Kontur wird in unterschiedlichen, aber nahe verwandten Verwendungsweisen gebraucht. Diese sind: (1) Höhepunkte konversationeller Erzählungen oder andere Themenbeendigungen bzw. –beendigungs-initiativen, sowie weiterhin, als Sonderfälle dieser Verwendungskontexte, (2) themenbeendende explizite Bewertungen und (3) Nach-Beendigungen. In den untersuchten Fällen werden in den Äußerungen mit dem 'Springton' Bewertungen oder Einstellungen formuliert, die im Gegensatz zu zuvor dargestellten öffentlichen Meinungen, allgemein üblichen Erwartungen oder eigenen anderen Ansprüchen stehen. Dabei kontextualisiert die beschriebene Kontur allgemein ein 'Leichtnehmen' des dargestellten Normverstoßes: (1) ein 'Leichtnehmen' eines eigenen Erwartungs- oder Normverstoßes, das paraphrasiert werden kann als: 'es ist/war halt so und ich habe es leicht genommen', (2) ein 'Leichtnehmen' des Handelns anderer, das sich in Verwunderung und Unverständnis oder freudiger Überraschung statt Empörung und Ärger oder Gleichgültigkeit ausdrückt, und das paraphrasiert werden könnte als 'das war tatsächlich so - kaum zu glauben, aber ich ging leicht damit um', (3) ein 'Leichthinsagen', das paraphrasiert werden kann als 'ich sehe es eben so, und ich meine es eben so' und das eine nur persönliche individuelle Bewertung und Meinung statt eines apodiktischen Behauptens nahelegt.

Extrahoher Vorlauf zusammen mit einer "Schöpfkellenkontur" im Hamburgischen 

Eine besonders saliente globale Kontur des Hamburgischen besteht aus einem extrahohen Vorlauf zusammen mit einer "Schöpfkellenkontur" (%­H L* (...) H*+L %). Hier beginnt die Phrase mit einem markiert-hohen initialen Grenzton %­H, der schnell bis auf das tiefe Niveau des ersten Akzents im Kopf der Phrase abfällt (L* (...)). Der Nukleus der Phrase wird dann mit einem fallenden Akzentton realisiert (H*+L).

Weitere Details sind in Auer/Gilles/Peters/Selting (2000) dokumentiert. Dieser Aufsatz ist online verfügbar.

Powered by CMSimple| Template: ge-webdesign.de| Login