3. Die Macht der Gewohnheit (Phonologie)

Viele Ausspracheschwierigkeiten lassen sich nicht plausibel damit erklären, dass der betreffende Laut in der Muttersprache nicht existiere und deshalb schwer zu bilden sei: Im Prinzip kann jeder Mensch z. B. lange Vokale bilden oder eine Silbe stärker betonen als eine andere. Die Frage ist aber, worauf wir zu achten gewohnt sind, und was uns in welcher Umgebung "normal" vorkommt, m. a. W. welche phonologischen Strukturen wir von den uns geläufigen Sprachen her gewohnt sind. Auf Probleme, mit denen DaF-Lerner in diesem Bereich konfrontiert sind, beziehen sich die Fragen dieses Abschnitts.

3.01 Wie schwer eine Sprache zu erlernen ist, hängt auch mit ihrer "Silbenstruktur" zusammen – den möglichen Konsonant-Vokal-Kombinationen, aus denen sich ihre Silben aufbauen können. Deutsch ist in dieser Hinsicht nicht leicht, besonders für Leute, deren Muttersprache eine sehr einfache Silbenstruktur hat. Nehmen wir Japanisch als Beispiel. An Silbentypen kommen nur vor

> Konsonant-Vokal-Konsonant (CVC)
> Vokal-Konsonant (VC)
> Konsonant-Vokal (CV) und
> Vokal allein (V),

als Konsonant am Silbenende nur /n/. Diphthonge kommen vor; ebenso lange Vokale. Sehen Sie sich die folgenden deutschen Wörter daraufhin an, welche von ihrer Silbenstruktur her einem Japaner keine Schwierigkeiten bereiten werden. Der Anfang ist schon gemacht.

1)  BALKON: schwierig; die Silbe BAL hat eine ungewohnte Struktur (KON ist unproblematisch).
2)  Bach
3)  Ball
4)  Blumen
5)  Bohnen
6)  Boot
7)  braucht
8)  Berg
9)  Brot
10) mit
11) nach
12) bei

 

3.02 Wer eine Sprache mit ungewohnt komplexer Silbenstruktur lernt – und in dieser Situation dürfte die Mehrheit der Deutsch Lernenden sein – ist meist in Versuchung, diese zu vereinfachen. Zwei Wege stehen ihm offen: Einschub zusätzlicher Vokale (etwa wenn wir TBILISSI beim Sprechen zu TIBILISSI machen) oder Auslassen von Konsonanten (eine Entsprechung wäre "BILISSI"). Sie finden hier Wörter wie sie von Studenten aus Spanien, Griechenland und China ausgesprochen wurden. Es sind Beispiele für Einschub und Auslassen oder eine Kombination aus beidem; eins der Beispiele lässt sich aber als Vereinfachung der Silbenstruktur nicht deuten: Welches ist es? (Hinweis: Sollten die phonetischen Zeichen in den folgenden Beispielen teilweilweise nicht angezeigt werden, so lesen Sie bitte die 'Technischen Hinweise'.)

1)  bestimmte [ be§tint\ ]
2)  vielleicht [ fi‘lai ]
3)  gibt es [ ‘gites ]
4)  wird [ ‘vi:t\ ]
5)  Pfennig [ p\‘fenige ]

 

3.03 Allgemeiner Bekanntheit erfreuen sich Chinesenwitze, die auf der fehlenden phonematischen Unterscheidung von R und L im Chinesischen und daraus resultierenden Verwechslungsmöglichkeiten im Deutschen basieren. Hier sind weitere Lautpaare aus anderen Sprachen aufgeführt, die dort nicht bedeutungsunterscheidend sind; mehrere davon sind aber im Deutschen bedeutungsunterscheidend (wie R und L in BLÖDCHEN vs. BRÖTCHEN), so dass mit Interferenzen zu rechnen ist. Welche sind es?

1)  [§] und [s] sind im Neugriechischen nicht bedeutungsunterscheidend.
2)  [n] und [÷] sind im Französischen nicht bedeutungsunterscheidend.
3)  [g] und [h] sind im Russischen nicht bedeutungsunterscheidend.
4)  [f] und [h] sind im Japanischen nicht bedeutungsunterscheidend.
5)  [i] und [y] sind im Italienischen nicht bedeutungsunterscheidend.
6)  [e] und [e] sind im Spanischen nicht bedeutungsunterscheidend.
7)  [x] und [k] sind im Englischen nicht bedeutungsunterscheidend.


3.04 Hier finden Sie eine Liste weiterer Aussprachefehler, die sich mit einiger Sicherheit aus Interferenzen erklären lassen: Finden Sie für jeden von ihnen eine plausible Ausgangssprache unter den angebotenen?

(1) "Aruhitekuto" statt "Architekt"
1)  Englisch
2)  Französisch
3)  Japanisch
4)  Russisch
5)  Spanisch

(2) "ein Barren" statt "ein Wagen"
1)  Englisch
2)  Französisch
3)  Japanisch
4)  Russisch
5)  Spanisch

(3) "Dödschland" statt "Deutschland"
1)  Englisch
2)  Französisch
3)  Japanisch
4)  Russisch
5)  Spanisch

(4) "Mietwoch" statt "Mittwoch"
1)  Englisch
2)  Französisch
3)  Japanisch
4)  Russisch
5)  Spanisch
(5) "Juni" statt "Uni"
1)  Englisch
2)  Französisch
3)  Japanisch
4)  Russisch
5)  Spanisch

 

3.05 Die folgenden Pluralformen werden alle auf der ersten Silbe betont. Bei einer von ihnen neigen Deutschlerner notorisch zu Zweitsilbenbetonung – wohl deswegen, weil sie einer Regel folgen, zu der dieses Wort eine Ausnahme bildet. Welches Wort mag es sein?

1)  Abfälle
2)  Zeitungen
3)  Monate
4)  Aufgaben
5)  Aufsätze
6)  Lösungen


3.06 In der Aussprache mancher Deutschlerner hört sich "Wolfgang" wie "Wolwgang" an, und das S in "als wir weggingen" klingt so weich wie ein Bienensummen. Offensichtlich praktizieren sie entgegen den deutschen Ausspracheregeln etwas, das man "regressive Assimilation" nennt. Welche anderen Besonderheiten in der Aussprache dieser Studenten sind wohl zu erwarten?

1)  Ein stimmhaftes S auch in "Du kannst kommen".
2)  In "weggingen" sind nur stimmhafte Konsonanten zu hören.
3)  Das F in "Sie wohnt in einem Dorf" ist ein stimmhaftes [v] .
4)  Das B in "abwarten" sprechen sie nicht [p], sondern [b] .


3.07 Manche Studenten können zwar das [ x ] in ACH oder BACH problemlos aussprechen, in Wörtern wie MACHEN oder SUCHEN ersetzen sie es aber durch [ ç ]. Offenbar lassen sie sich auf die falsche Weise durch die Umgebung des Lautes beeinflussen. Wie könnte man die Regel formulieren, nach der wir im Deutschen das <ch> als [ ç ] bzw. [ x ] sprechen?

1)  Nach A, O, U sprechen wir [ x ], sonst [ ç ].
2)  Nach A, O, U und Konsonanten sprechen wir [ x ], sonst [ ç ].
3)  Nach A, O, U und vor Konsonanten sprechen wir [ x ], sonst [ ç ].
4)  Vor E, I und den Umlauten sprechen wir [ ç ], sonst [ x ].


3.08 Unser sogenannter "Knacklaut" (Kehlkopfverschlusslaut) ist ein Problem für sich – nicht nur, weil wir ihn nie schreiben, sondern auch, weil er in vielen Sprachen keine annähernd so große Rolle spielt wie im Deutschen. Auch wann er im Deutschen zu sprechen ist, ist nicht in ganz einfache Regeln zu fassen. Beobachten Sie Ihren eigenen Sprachgebrauch und entscheiden Sie dann, in welchen der folgenden Wörter er an der markierten Stelle vor dem Vokal gesprochen wird:

1)  Ver_ein
2)  her_ein
3)  hin_ein
4)  all_ein
5)  bei _einer
6)  _Einigung


3.09 Umgekehrt schreiben wir unser <h> auch in Wörtern, in denen wir es nicht aussprechen und in denen es auch nicht plausibel als "Dehnungs-h" zu erklären ist. In welchen der folgenden Wörter ist es als eigenständiger Laut zu hören?

1)  Ruhe
2)  nah
3)  näher
4)  heute
5)  behalten
6)  verhauen
7)  roh


3.10 In vielen Sprachen verändert sich die Aussprache von Lauten, wenn sie am Wortende zu stehen kommen. Auch im Deutschen ist das der Fall. Welche Regel gilt hier?

1)  Stimmhafte Plosive werden stimmlos gesprochen ("Auslautverhärtung")
2)  Unbetonte Vokale im Auslaut werden als [ \ ] (schwa-Laut) gesprochen.
3)  <n> wird am Wortende ähnlich wie <ng> gesprochen
4)  Konsonanten werden kräftiger behaucht ("Aspiration").


3.11 Ausländer klagen oft, die deutsche Umgangssprache sei schwer zu verstehen, weil diese sich schon lautlich stark von der Hochsprache unterscheide. Natürlich ist die Umgangssprache in den meisten Teilen Deutschlands regional gefärbt und schon dadurch schwieriger zu verstehen. Dies wollen wir aber einmal außer Acht lassen und uns auf die nicht regional gebundenen Elemente der Umgangssprache konzentrieren. Zwei oder drei der hier aufgeführten Unterschiede zur Norm-Lautung dürften ziemlich typisch sein, also über die zitierten Beispiele hinaus auf viele weitere Wörter zutreffen. Welche sind es?

1)  Auslautkonsonanten werden weggelassen: NICHT wird "NICH" gesprochen.
2)  Unbetontes E am Wortende fällt aus: ICH GEHE wird "ICH GEH" gesprochen.
3)  Die unbetonte Endung -EN wird ohne das E gesprochen: GEHEN wird zu "GEHN".
4)  Pronomen nach einem Verb werden verkürzt: HAST DU wird zu "HASTE".
5)  Lange Vokale werden verkürzt: SCHON GUT wird "SCHONNGUT" gesprochen.


3.12 Neben Vokalausfall ("Elision") und -verkürzung ist besonders die Assimilation typisch für die Umgangssprache: Die zweite Silbe in MORGEN verliert nicht nur meist ihr E, sondern das N gleicht sich in seiner Artikulationsstelle an das G an und klingt dann wie NG. Bei welchen der folgenden umgangssprachlichen Lautungen liegt ebenfalls Assimilation vor?

1)  MÖCHTE ICH wird wie MÖCHTICH gesprochen.
2)  KANNST DU wird wie KANNSTE gesprochen.
3)  KANN SIE wird wie KANNSE gesprochen.
4)  HABEN WIR wird wie HABMWA gesprochen.
5)  HABT IHR wird wie HAPTA gesprochen.
6)  WOLLEN SIE wird wie WOLLNSE gesprochen.

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